Julias Geschichte: Von wegen "freie Entscheidung"

 

Meine Adoptionsgeschichte fängt eigentlich schon in meiner eigenen Kindheit an...

Zusammen mit einem etwas jüngeren Bruder wuchs ich in einer einigermaßen wohlhabenden Familie auf. Unsere Eltern haben sich scheiden lassen als ich sieben Jahre alt war. Unter dem danach entbrannten Scheidungskrieg haben wir Kinder sehr leiden müssen, denn wir wurden der Mutter zugesprochen und konnten den Vater und dessen Familie danach kaum mehr sehen.

Unsere Mutter war nicht gerade das, was man als liebevoll bezeichnen würde, denn sie war mehr mit sich selbst, als mit ihren Nachkommen beschäftigt. Eigentlich wurden wir eher von ihrer bigotten Mutter, also unserer Oma, erzogen. Das sah dann so aus, dass wir mehr Zeit in der Kirche verbrachten, damit dort ein paar Leute mehr in den Bänken saßen, als z. B. auf dem Sportplatz. Unser Leben war ansonsten geprägt von Verboten und Strafen wie Stubenarrest oder Ohrfeigen. In der Folgezeit zogen wir viermal um und wechselten genauso oft die Schule.

Kurz nach meinem 15. Geburtstag kam mein Vater bei einem Autounfall ums Leben, aber davon erfuhren wir Kinder erst, als er bereits beerdigt war, denn meine Mutter meinte, uns vor Schaden 'schützen' zu müssen. Seine Familie aber ahnte nicht, warum wir nicht kommen konnten und nahm uns das Fernbleiben erst einmal furchtbar übel. Wer hätte auch ernsthaft annehmen können, dass 13 und 14 Jahre alte Kinder nicht verstehen sollten, was der Tod des Vaters bedeutet? Jahre später sagte man uns dann auch noch, dass er sich möglicherweise umgebracht habe.

Im Jahr danach zogen wir in eine andere Stadt. Unsere Mutter hatte wieder geheiratet und ihr neuer Mann war nicht gerade das, was man einen Kinderfreund nennen könnte. Ich glaube, er duldete uns nur – und auch das nur deswegen, weil wir zu meiner Mutter gehörten, der Frau, die er abgöttisch verehrte. Wir wohnten, schön praktisch getrennt, in einem Zweifamilienhaus; die Kinder unten, die Erwachsenen oben. Getroffen hat man sich hauptsächlich zu den Mahlzeiten, zum Fernsehen oder bei besonderen Anlässen.

Da meine Mutter als Immobilienmaklerin arbeitete und die Oma nicht mit umgezogen war, kümmerte sich nun niemand mehr besonders um uns, es sei denn, die Schulnoten waren schlecht. Dann setzte es Ohrfeigen und wir bekamen Stubenarrest. Da wir sehr verschieden waren, verstand ich mich mit meinem Bruder fast gar nicht. So kam es, dass wir nach der Schule meistens getrennte Wege gingen. Zwei Jahre vor dem Abitur, ich war gerade 17 geworden, habe ich gleich zu Ferienbeginn im Schwimmbad einen gleichaltrigen Jungen kennengelernt und mich wahnsinnig in ihn verliebt. Zu ihm hatte ich sofort Vertrauen und bei ihm fühlte ich mich richtig wohl. Da sich meine Mutter auch um solche wichtigen Dinge wie Aufklärung nicht kümmerte, kam es, wie es kommen musste - ich stellte im Spätherbst plötzlich fest, dass ich schwanger war.

Was danach kam, war für mich die Hölle. Wegen der regelmäßigen Ohrfeigen und anderen drastischen Strafmaßnahmen, hatte ich panische Angst davor, zuhause etwas zu sagen. Wochenlang überlegten mein Freund und ich, was wir denn nun tun sollten. Zuhause ahnte, vor lauter Selbstverliebtheit, niemand etwas von dem Drama, das sich eine Etage tiefer abzeichnete. Ich ging weiter in die Schule und auch dort nahm keiner Notiz von meinem Zustand, selbst dann nicht, als ich bereits im achten Monat war und kurz vor den Sommerferien auch noch bei den Bundesjugendspielen mitmachen musste. Heute wundert es mich, dass ich dabei nicht mein Kind verloren habe, bzw. die Geburt nicht ausgelöst wurde. Offenbar ist meine Tochter ein richtig starkes Kind geworden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinen Arzt gesehen, denn ohne den Krankenschein meiner Mutter hätte ich dort gar keinen Einlass gefunden. Die ganze absurde Situation gelangte zu ihrem Höhepunkt, als meine Mutter mit uns Kindern zu Verwandten nach Bayern in Urlaub fuhr. Dort angekommen, merkten diese braven Leute gleich, dass da etwas nicht stimmte und öffneten meiner Mutter die Augen.

Die bekam erst einmal einen Tobsuchtsanfall, aber ganz sicher nicht wegen ihrer eigenen Blindheit. Gleich am nächsten Tag packte sie mich ins Auto und wir fuhren zurück nach Hause. Es folgte der erste Besuch beim Frauenarzt, wobei herauskam, dass die Geburt wohl in zwei Wochen anstand. Das dauerte meiner Mutter entschieden zu lange, denn diese Warterei passte nicht zu dem von ihr eiligst ausgeklügelten Familienrettungsplan . Aus diesem Grund nötigte sie den Arzt, welcher eine verschwiegene Privatklinik in einer nahen Kleinstadt betrieb, zur vorzeitigen Einleitung der Geburt – gleich am nächsten Tag. Ich wurde überhaupt nicht gefragt und vor lauter Angst, wagte ich auch gar nicht, meinen Mund auch nur einen Millimeter weit aufzumachen. Heutzutage würde ich so einen Mediziner anzeigen, bekäme ich Wind von so einer Sache.

Am nächsten Morgen, es war der 8.August 19 69, wurde ich im Krankenhaus abgeliefert und meine Mutter fuhr gleich weiter zu ihrer eigenen Mutter, die an diesem Tag ihren einundsiebzigsten Geburtstag feierte. Während sie gemütlich mit anderen Damen beim Kaffee saß, presste sich ihre Tochter ihr eigenes Kind aus dem Bauch. Als dieses kleine Wesen dann am fortgeschrittenen Nachmittag das Licht der Erde erblickte, war niemand zugegen, außer dem Arzt und einer alten Hebamme.

Mir war danach zum Heulen, aber meine Tränen verschwanden schlagartig, als man mir eine Stunde später meine winzige Tochter in den Arm legte. Ich konnte es kaum glauben, dass das mein Kind war. Ich schwor diesem kleinen Mädchen, dass sie es einmal besser haben würde als ich. Meine Mutter erschien noch am gleichen Abend und sah nach dem Rechten . Sie war sicher sehr erleichtert, dass das Kind gesund war und sie erzählte mir sofort, dass sie schon einen Termin mit der Dame vom Jugendamt ausgemacht habe, die würde in den nächsten Tagen wegen der Adoption vorbeikommen. Für meine Mutter und deren Ehemann kam, außer einer Adoption, überhaupt nichts anderes in Frage. Und weil sie dabei kein Risiko eingehen wollte, ordnete sie sofort an, dass mir das Kind nicht mehr gebracht werden dürfe, weil mich das ja nur unnötig aufregen würde .

Dieses Verbot wurde allerdings gleich am nächsten Tag unterlaufen, denn da kamen mein Freund und dessen Familie zu Besuch. Alle waren sich einig, dass man unser Kind auf keinen Fall zur Adoption freigeben dürfe, denn wir könnten doch gut bei ihnen wohnen, weil ausreichend Platz da sei und die andere Oma ja genug Zeit hätte, wo doch gerade ihr Mann verstorben war. So hätten wir jungen Eltern unser Abitur machen können und für das Baby wäre auch gesorgt gewesen.

Durch diese Rechnung machten uns meine Mutter und ihr Mann aber einen gehörigen Strich. Als erstes wurde die ungelehrige Krankenschwester gemaßregelt, dann kam ich an die Reihe: »Reicht Dir der Ärger noch nicht, den Du uns gemacht hast?« Am Entlassungstag, erschien sie mit einer geliehenen Babyausstattung im Krankenhaus und fuhr schnurstracks mit ihrer total eingeschüchterten Tochter und der friedlich und zufrieden in ihrem Tragebettchen schlafenden Enkelin zu dem privaten Babyheim, das sie ausgesucht hatte. Dort sollte das Baby bis zur Adoption aufgehoben werden. Ich lief immer hinter meiner Mutter her, sah mir alles an und sagte kein Wort. Fassungslos und innerlich zitternd vor Angst, brachte ich nämlich keinen Ton raus. Ich hasste diese Frau und ihren Mann derart, dass ich sie am liebsten umgebracht hätte, aber ich schwieg nur und litt. In beidem hatte ich ja ausreichend Übung.

Als wir wieder zuhause waren, erwartete mich mein Stiefvater. Er traktierte mich derart mit Schimpfworten, von wegen undankbares Flittchen, und verhängte eine ganze Reihe von Verboten. Danach suchte ich nur noch fluchtartig den Weg nach unten in mein Zimmer. In der Folge mied ich den Kontakt zu ihm wo ich nur konnte. Zu den Strafmaßnahmen gehörte auch ein Kontaktverbot zu dem Vater meiner Tochter sowie seiner gesamten Verwandtschaft, was diese überhaupt nicht verstehen konnten. Als sie dann auch noch merkten, dass das mit der Adoption tatsächlich Ernst gemeint ist, wollten sie mit mir nichts mehr zu tun haben. Und weil mir mein fürsorglicher Stiefvater nicht mehr über den Weg traute, brachte er sicherheitshalber an dem Rollladen meines Fensters ein Schloss an, welches er jeden Abend höchstpersönlich absperrte.

In der Schule hatte man mich, ohne mein Einverständnis, ab- und stattdessen in einer Chemieschule angemeldet. Sofort nach den Sommerferien fing ich dort mit einer Berufsausbildung an, die mir zwar nicht lag, aber ich war froh, nicht den ganzen Tag zuhause sein zu müssen.

Parallel dazu arbeitete meine Mutter sehr eng mit dem Jugendamt zusammen und sie wurde nicht müde, denen klar zu machen, dass es für das Baby viel besser wäre, wenn es bei vernünftigen Eltern aufwachsen würde, die ihm eine gute Zukunft bieten können. Der Mann vom Jugendamt, sagte mir bei unserem Schlüsselgespräch, das er sogar mit mir alleine führte: "Wissen Sie, ich glaube ja nicht, dass das Ihr eigener Wille ist, aber was kann ich da noch machen?"

Jahrelang fragte ich mich, warum er mich so hat hängen lassen können. Wenn er schon Zweifel hatte, warum hat er mir keine Alternativen angeboten? Als erfahrener Sozialpädagoge hätte er doch sicher merken können, in welcher Verfassung ich mich befand, dass ich absolut willenlos war und diese Entscheidung alles andere, als mein wirklicher Wille war. Nachdem ich die Unterschrift geleistet hatte, verließ ich das Gebäude und setzte mich draußen auf eine Bank. Obwohl es recht kalt war, war ich nicht in der Lage direkt zur Straßenbahn zu laufen, um nach Hause zu fahren. Welches Zuhause denn? Hatte ich überhaupt jemals in den letzten Jahren eines gehabt?

In den nächsten beiden Jahren absolvierte ich meine Berufsausbildung und trat dann eine Stelle an, die mir meine Mutter schon zwei Jahre vorher ausgesucht hatte. Die Firma lag 30 Kilometer weg und so wurde mir ein kleines Appartement eingerichtet. Ich war erleichtert, dass ich endlich zuhause weg konnte und richtete mein neues Leben ein. Natürlich lernte ich irgendwann einen (um einige Jahre älteren) Mann kennen, den ich mit 23 heiratete, weil er so lieb und fürsorglich war. Da er ein Grundstück und ich etwas Geld aus dem Erbe meines Vaters hatte, bauten wir uns mit vereinten Kräften gleich ein gemütliches Haus und zogen in weniger als einem Jahr dort ein.

Als ich im zweiten Jahr unserer Ehe entdeckte, dass ich schwanger war, freute ich mich wahnsinnig. Ich hoffte inständig, dass ich nun nicht mehr sehnsüchtig in jeden Kinderwagen oder auf jedes Kleinkind blicken würde, wenn sie mir auf der Straße entgegen kamen. Meinen Mann aber erfreute diese Schwangerschaft überhaupt nicht, denn er hatte meinen zusätzlichen Verdienst fest in seine Finanzplanungen eingebaut, weshalb er mich auch sofort und ohne Umschweife zur Abtreibung nötigte. Meine Gefühle ihm gegenüber schlugen auf der Stelle in Abneigung um, denn weder seine Ausdrucksweise noch die Art, wie er mich dabei ansah, ließen bei mir an der Ernsthaftigkeit seiner Worte, Zweifel aufkommen. Bei mir kam erneut das ganze Elend hoch, das ich nur wenige Jahre zuvor erlebt hatte. Ab diesem Moment hatte ich keine Achtung mehr vor ihm. Als er mich dann, wegen der Leute , auch noch alleine nach London schickte, wo damals jede Art von Schwangerschaftsabbruch problemlos möglich war, wandelte sich diese Missachtung in blanken Hass um. Dadurch war für mich diese Ehe endgültig unerträglich geworden und ich verlangte nach meiner Rückkehr die Scheidung, die er mir dann zwar erst einmal zwei Jahre lang verwehrte, aber danach wurden wir doch geschieden.

Über 30 Jahre lang wagte ich es nicht, nach meiner Tochter zu suchen. Ich war mir immer sicher, dass ich kein Recht dazu habe, in ihr Leben einzudringen, aber ich hoffte inständig, dass sie selbst eines Tages nach mir suchen würde. In meiner Familie, wurde die Adoption tot geschwiegen und zu dem Vater meiner Tochter hatte ich keinen Kontakt mehr. Erst ein guter Freund von mir, überredete mich eines Tages dazu, doch nach ihr zu suchen, wozu ich mir dann endlich auch ein Herz fasste. Schon wenige Wochen danach lag der erste Brief von ihr, bzw. dem Jugendamt, im Briefkasten.

Sie wollte anonym bleiben, gab mir aber ausführlich Auskunft über sich, legte zwei frische Urlaubsfotos rein und stellte ein paar Fragen an mich. Zu meinem Entsetzen stellte sich während des nachfolgenden Briefwechsels später heraus, dass sie damals ausgerechnet in die Kleinstadt vermittelt wurde, in der ich zwei Jahre später meinen ersten Job antrat, in der ich mehrere Jahre verheiratet war und wo ich mit ihren Eltern im gleichen Skiclub Mitglied war! Ich habe danach wochenlang nicht schlafen können und sah nächtelang im Traum ein kleines Mädchen, welches mich anlachte und dabei fest die Hände seiner Eltern umklammert hielt.

In den Folgejahren tauschten wir zunächst Briefe aus (sie direkt an mich, ich über das Jugendamt) und später E-Mails (weil sie dabei anonym bleiben konnte) aus, aber sie war nie zu einem persönlichen Kennenlernen bereit, obwohl sie sich mit ihrem Vater vor vielen Jahren schon zweimal getroffen hatte. Inzwischen sind fast sechs Jahre vergangen, sie hat geheiratet und ich bin seit über zwei Jahren Großmutter eines prächtigen Enkels. Obwohl meine Tochter bis heute, sie ist inzwischen fast 39, nie explizit gesagt hat, dass sie mich nicht sehen will, spüre ich ihre Ablehnung von Tag zu Tag mehr. Am Anfang habe ich mir immer eingeredet, sie bräuchte halt nur Zeit, aber mittlerweile ist mir klar, dass das eine Art Bestrafungsaktion ist - die Reaktion eines Menschenkindes, das sich im Stich gelassen fühlt, auch wenn sie sich das sicher nicht offen eingestehen kann.

Für mich ist diese Situation sehr belastend und das Verhältnis zu meiner eigenen Mutter verschlechtert sich dadurch zusehends, denn mein Unverständnis ihr gegenüber schwenkt längst wieder in blanke Wut um, zumal sie zum heutigen Tag nie den Versuch gemacht hat, sich bei mir für ihr damaliges Handeln zu entschuldigen.

Julia Fargg – 2008

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